2014/04/03

Bodo #071: Only Eardrops



Liebes Bodo.

Der Eurovision Song Contest.

[Man hört leises Murmeln und Stöhnen, danach Stühlerücken und allgemeine Unruhe]

Das Thema ist mir wichtig. Es beschäftigt mich schon lange und ich muß endlich ausführlicher dazu schreiben. Ich kann nicht anders.

[Erste Türen fallen ins Schloß. Schnelle Schritte entfernen sich vom Rednerpult]

Es gibt wenig Verachtenswerteres als den deutschen Schlager. Toppen kann diese kulturelle Mißgeburt an Abartigkeit eigentlich nur die mit ihr einhergehende menschliche Solche ... die "Eurovision-Transe".

[Stille im Raum. Viele zuvor Aufgeschreckte nehmen wieder Platz]

Ja, so ist mein Publikum. Ständig auf der Suche nach neuen Hassreden gegen Minderheiten, die mehrheitlich unfaßbar nerven, aber aufgrund früherer Führungsfehler auf den oberen Etagen deutscher Elitenverbände mit übergroßer Toleranz seitens des einfachen Volkes rechnen dürfen und wehe wenn nicht!

Thomas Hermanns soll mir im Folgenden als Beispiel dienen für einen Jemand, den ich selbst unter Androhung von Gewalt nicht in die Wohnstube bitten täte, und sei es auch nur in Form eines TV-Abbilds.
Ich wähle ihn nicht etwa willkürlich zum Sündenbock meiner Abneigung ... stand er doch höchstpersönlich unglaubliche 3 Jahre lang dem Song Contest in Deutschland als Galionsfigur vor, mit all seinen bescheidenen Moderationsfähigkeiten, seinem widerlich aufdringlichen Flachmann-Humor, seiner offen ausgelebten musikalischen Inkompetenz und natürlich der beneidenswerten Gabe, auch miesesten Künstlerattrappen kilometertief ins Rektum zu schnorcheln, ohne unterwegs Luft holen zu müssen. Ebenfalls Dauergäste auf der Selbsthilfecouch der "ABBA-Revival-Psychosetten AG" waren seinerzeit übrigens Lindenstraßen-Medizinmann Georg Uecker ... ohne mindestens zwei bekennende Homosexuelle darf es in diesem Lande nie wieder einen ESC-Vorentscheid geben ... steht ja schon in der Verfassung ... und die singende Abrissbirne Joy Fleming, die, gestützt auf ihren einstigen Megahit "Mein Lied soll meine Krücke sein", tatsächlich irgendwie ins neue Jahrtausend gehumpelt ist, ohne dabei Opfer jener Form von Bedeutungslosigkeit zu werden, die sie mit ihrem atemberaubenden Rang 17 (!) unter insgesamt 19 Teilnehmern (!!) beim ESC 1975 durchaus verdient gehabt hätte.
Aber ach, wer denkt schon gerne beim Rückfall in zuckersüße Nostalgie an störende Statistik? Schließlich war früher alles besser, als der ESC noch "Grand Prix Chanson de la la Dings" hieß und RICHTIGE TALENTE auf europäischer Bühne ORDENTLICHE Musik zum Besten gaben! Damals, so lese ich es immer wieder, beispielsweise auf noisey.vice.com, genoss Deutschland noch den Ruf, "mehr oder weniger automatisch jährlich als Aspirant auf die vorderen Plätze anzutreten."

Es stimmt durchaus, daß es ein paar BRD-ESC-Liebchen gab, die immer wieder gute Ergebnisse einfahren konnten. Katja Ebstein etwa, unter anderem hiermit:



Platz 3 beim ESC 1970. Von insgesamt 12.


Sieger wurde übrigens dasda:



... und zwar mit insgesamt 32 Punkten. Frau Ebstein bekam gerade mal 12 Punkte für ihren dritten Platz.
Zum Vergleich: beim letztjährigen ESC reichten der deutschen Ützütz-Combo "Cascada" die ihnen zugesprochenen 18 Punkte gerade mal für Platz 21.

Jaja, Kinnerz, so is das. Alles ist relativ. Auch die gefühlte "Obermacht deutschen Kulturgutes" jener guten alten Grand-Prix-Tage relativiert sich schnell, wenn man sich etwas ausführlicher mit der Materie beschäftigt.
Mal ganz abgesehen davon, daß auch damals schon ne Menge Gurkenverifizierung stattgefunden hat unter deutschen Liedbeiträgen; in Schmuseschunkelkreisen relativ bekannte Namen wie "Münchener Freiheit", "Cindy & Bert", "Nino de Angelo" oder "The Les Humphries Singers" stanken allesamt ordentlich ab, zurecht.

Um meinen Punkt zu verdeutlichen, noch bevor ich ihn offen formuliert habe, möchte ich an dieser Stelle einen Direktvergleich bemühen, ohne große Worte, denn er spricht für sich selbst.
Die Gewinnerin vom ESC 1970 habe ich oben eingebunden, sowie auch die deutsche Sängerin in Ton und Bild.

Hier sind nun die Gewinner des ESC aus dem Jahre 2006.





Und der entsprechende deutsche Beitrag.






Der Kontrast dürfte sich niemandem verschließen. Ich rede nich von Mode oder Bühnenbildern, ich rede von Musik und Performance.
Es gibt einen Grund dafür, warum die Vokabel "Chanson" nicht länger Teil des Veranstaltungsnamen ist. Der ESC hat sich seit der "guten alten Zeit deutscher Permanentdominanz" sehr entwickelt. Natürlich hört man auch heute noch vereinzelt schaurigen Schunkelschlager dort, warum auch nicht?! Der ESC der Neuzeit verfügt über das breiteste Genre-Spektrum, das man sich denken kann: Pop, Rock, Dance, Soul, Jazz, sogar Hiphop, Industial, Punk ... alles Vorstellbare und gelegentlich sogar nahezu Unvorstellbares tummelt sich in dieser alljährlich über irgendeinem Land Europas ausgeschütteten Wundertüte zeitgenössischer Krachmacherei.

Das Jahr 2006 steht aus meiner Sicht in vielerlei Hinsicht stellvertretend für einen Zeitenwechsel, den Klampfträller-Puristen nicht wahrhaben wollen, und das längst nicht nur aufgrund des Siegertitels.
"No No Never" ist kein schlechter Song. Eine deutsche Country-Nummer jenseits des berüchtigten "Truck-Stop"-Kombinats als Vertreter Deutschlands auf eine europäische Bühne zu schicken, war sicherlich nicht die schlechteste Idee, auf die man hätte kommen können. Dennoch wirkt die Nummer im Vergleich mit vielen anderen Teilnehmern des Jahres 2006 recht konservativ.
Wieder gilt: Alles ist relativ. Denn ...verglichen mit der Vorrundenkonkurrenz, die uns die ARD und ihr neuer Frontmann Thomas Hermanns beim neu strukturierten deutschen Vorentscheid seinerzeit präsentierten, sehen die Jungs und das Mädel von "Texas Lightning" fast wie GhettoGangstaZ aus.
Nach den rieeesigen deutschen ESC-Flops der Vorjahre hatte man sich 2006 nämlich in unser aller Lieblingsanstalt des öffentlichen Rechtes erstmals dazu entschlossen, nicht weiter dem offenbar grenzdebilen Volke allein die Song-Auswahl für den ESC zu überlassen, sondern eine "Vorabselektion zur Qualitätssicherung" zu unternehmen, was darin resultierte, daß der abstimmungswillige Zuschauer nicht wie vorher unter einem knappen Dutzend, sondern nurmehr unter 3 ESC-Kandidaten wählen durfte.

Und wer waren die beiden ach so qualitativ hochwertigen Kontrahenten von "Texas Lightning" beim ESC-Vorentscheid 2006?

Vicky Leandros ...


... und Thomas Anders.


Diese Vorauswahl zur Vorauswahl zeigt meiner Ansicht nach deutlicher als jedes andere Indiz, wie wenig Gespür die Verantwortlichen bei der ARD dafür hatten, was beim ESC punkten kann. Beim ESC 2006, wohlgemekrt. Sowohl Herr Anders auch auch Frau Leandros wären ganz bestimmt eine gute Besetzung gewesen ... für das Jahr 1970!
Die ewig Gestrigen; sie könnens einfach nicht ertragen, daß sich die Welt von ihnen nicht am Drehen hindern läßt, daß eine drastische Divergenz besteht zwischen diesem Song ...



und diesem ...



Der Zeitgeist, das Abstimmungsverhalten, das Abstimmungssystem, die ganze verdammte Veranstaltung samt Zielgruppen-Ausrichtung und künstlerischem Inhalt unterscheiden sich deutlich von ihren Gegenstücken von vor 40, 30, 20 Jahren! Die Zeiten ändern sich. Man kann im Jahre des Herrn 2006 nicht die Schnapsleiche von René Weller gegen V. Klitschko in den Ring stellen und davon ausgehen, gute Siegchancen zu haben, nur weil Weller in den Siebzigern bestimmt ne ganze Horde Russen eigenhändig hätte zusammenschlagen können.
So funktioniert die Welt nicht! Egal, wie sehr man sich das auch wünschen mag.
WARUM man sich sowas überhaupt wünschen sollte, is nochma 'ne andere Frage. Aber nich für hier und jetzt. Folge 71 hat bereits ausreichend Überlänge.




Vorurteile sterben nur sehr langsam. Ständig wird man mit der Annahme ESC-ferner BILD-Leser konfrontiert, man müsse entweder stockschwul oder aber Helene-Fischer-Fan sein, oder beides, um sich den ESC nüchtern, vielleicht sogar mit eingeschaltetem Verstand freiwillig reinziehn zu mögen.
So sehr ich dieses dämliche Geschwätz auch verachte ... ich verstehe, woher solcherlei Mythos stammt und wer ihn am Leben hält.
Gestalten wie Thomas Hermanns sind es, die nimmermüde immerwieder öffentlich in Glitzerklamottur auf sogenannten "Grand-Prix-Parties" den ach so traditionellen Schwulenkult rund um den ESC ... Verzeihung, ich meine natürlich Grand-Prix ... zementieren.
Traditionen sind nichts anderes als eine Ausrede für Denkfaulheit. Auch der schwule Mitbürger kann ein reichlich depperter Vollhorst sein; sexuelle Orientierung schützt leider nicht vor Vorurteilen und Dummheit, erst recht nicht vor den/der eigenen. Zusaufen und Abfeiern, uralte Rosenberg-Gassenhauer gröhlen und sich gegenseitig versichern, wie fulminant die Andersartigkeit des Traditionellen einwirken muß auf die doofen Konservativen da draußen, die einfach nicht mit der Zeit gehen wollen und einzusehen haben, daß der ESC ... äh, der Grand-Prix nicht länger ihnen gehört!
Ich wette um Haus und Hof, sollte sich der ESC bis ins Jahre 2030 zu einer Death-Metal-Battle gemausert haben, es stünden nach wie vor tausende ABBA-Transen im Publikum, um ihr Revier zu markieren, in nahezu fanatischer Ignoranz des ihnen musikalisch Präsentierten, mit Glitter, Glamour und Prosecco, in Ewigkeit, Bussi.
Es unterscheidet sie nichts von denen, die sich die "gute alte Zeit" zurückwünschen ... die Eurovision-Transe ist im Prinzip nicht besser als jeder beliebige CSU-Politiker. Sie denkt, sie wärs, weil sie gewohnt ist, das zu denken.
Irgendwann überholt die Realität jedwede Gewohnheit und läßt in ihrem Staub nur Verwirrung und Irrtümer zurück.

Ich richte mich mit meinen Worten gegen niemanden, der den Contest liebt ... und zwar dafür, was er IST und nicht irgendwann vor meiner Geburt mal gewesen sein mag ...
denn was der Contest heute ist, verdient Anerkennung und Respekt. Auch dann, wenn das dreckige Ausländerpack nich jedes Jahr den guten, anständigen Deutschen seine wertvollen Punkte in gebotener Ehrfurcht vor die Füße werfen will.


In Ausgabe 2 meiner Abhandlung zum ESC möchte ich erläutern, was genau ich am Kontest so mag, wie sich meiner Ansicht nach gute Musik von gut gemachter Musik unterscheidet und warum ich GERADE beim ESC immer nüchtern bleibe.
Demnächst. Nur bei Bodo.

Bis denn dann.
Sammy



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